POLP (Praxisorientierte Lernprojekte Campmodul)
Bilder sind in der Gallery zu finden.
Für «schwierige Kunden»: Time out unter freiem Himmel |
Schule im Freien, praxisnah und durch die Jugendlichen weitgehend selbst geplant, bietet das «Polp-Zentrum» in Rheinau,
Kanton Schaffhausen. BILDUNG SCHWEIZ hat das Camp besucht und mit Teilnehmenden sowie dem Leiter, Sven Eberhardt,
über die Erfahrungen gesprochen.
Der Lehrer der Oberstufe in F. hat in seiner achten Klasse einen besonders «schwierigen Kunden». Seit einem halben Jahr schwänzt der Fünfzehnjährige den Unterricht nach Belieben, und wenn er anwesend ist, stört er diesen massiv, foutiert sich um Schulstoff und Hausaufgaben, stösst Drohungen aus und provoziert Klassenlehrer und Fachlehrpersonen gleichermassen. Ein Schulausschluss und eine spätere Heimeinweisung scheinen unumgänglich.
Für solche oder ähnliche Situationen bietet der Oberstufenlehrer Sven Eberhardt in Rheinau SH seit etwas mehr als einem Jahr eine Alternative an: «Polp» (praxisorientierter Unterricht) und «Time out»,
ein Phasen-Modell für Schülerinnen und Schüler, die im normalen Klassenverband nicht mehr tragbar sind. Teilnehmen können sowohl einzelne Jugendliche als auch ganze Klassen, die den theoretischen Schul-unterricht für einige Tage praxisbezogen sozusagen
«im Feldversuch» durchführen wollen.
Offenes Feuer und kaltes Wasser Das Time out-Programm findet in einem Camp unter freiem Himmel auf dem Gelände eines der grössten Biobetriebe der Schweiz im schaffhausischen Rheinau in idyllischer Umgebung direkt am Ufer des Rheins statt. BILDUNG SCHWEIZ hat beim Besuch des Camps, Mitte Mai, eine zweite Klasse der Schule für Berufs- und Weiterbildung (SBW) Frauenfeld, eine Privatschule, angetroffen. Die 13 Knaben und vier Mädchen organisieren sich unter der Leitung von Eberhardt weitgehend selbstständig: geschlafen wird in Zelten, gekocht auf dem offenen Feuer, gearbeitet an verschiedenen, durch Planen geschützten Arbeitsplätzen. Büro und Vorratsraum sind in einem ehemaligen Hühnerstall untergebracht; fliessend kaltes Wasser gibts aus dem Gartenschlauch; WC und Duschen dürfen im nahe-gelegenen Kloster benutzt werden. Das Freizeitangebot bieten die Natur, der Rhein, die selber gezimmerten Kajaks und das Hallenbad. Letzteres ist an einem Tag, wie dem 22. Mai, der verregnet und kühl ist, besonders beliebt.
Alte Verhaltensmuster durchbrechen
An der überdachten Feuerstelle wird an diesem Morgen Zinn gegossen. Thomas und Fabio giessen zur Herstellung eines Anhängers das flüssige Metall in eine Gipsform. Die beiden kommentieren und begutachten das Resultat mit Sven Eberhardt und kommen zum Schluss, dass der erste Versuch noch nicht den Erwartungen entspricht. Die Ränder der Gipsform müssen präziser geschnitzt werden.
Zwei andere Schüler machen Mathematik am lebenden Objekt und berechnen die Höhe eines auf dem Grundstück stehenden Baumes. «Man hat die Sache einfach vor Augen und begreift spielend, was man tut», meint Thomas, dem die Sache hier viel mehr Spass macht als im Schulzimmer. Planen, ausprobieren, erfahren, korrigieren, das ist der Weg, den die Jugendlichen während des zehntägigen Camps gehen müssen.
Einige Schritte entfernt steht die Versuchsstation für physikalische Experimente. Adrian versucht dort, dem Phänomen des Sinkens und Auftauchens eines U-Boots auf die Schliche zu kommen. «Eigentlich kam ich nur mit Widerwillen hieher und die Arbeiten auf dem Bauernhof am ersten Tag haben mich ganz schön angesch...», gibt er zu. Jetzt aber, nach dem dritten Tag könne er sich sogar vorstellen, einen Monat oder länger zu bleiben. Den Fernseher, die Disco und die gemütliche Dusche vermisse er allerdings schon ein wenig.
Ziel des Projekts ist, «durch Erfahrung lernen und begreifen». Alte Verhaltensmuster sollen durchbrochen, neue ausprobiert und reflektiert werden. Der Jugendliche soll lernen, für sein Tun Verantwortung zu übernehmen und dabei Vertrauen und Selbstvertrauen aufbauen. Sozial-, Selbst-, Fachkompetenz sind die Schlagworte, mit denen Eberhardt die Ziele seines Projekts benennt. «Die Teilnehmer sind nach dem Time out nicht mehr dieselben wie vorher», sagt er.
Das bestätigt auch Fabio, der eine ziemlich bewegte Schullaufbahn aufweist und im Moment als einziger Time out-Kunde dabei ist. «Ich lerne selbstständig und im Team arbeiten. Das hier gefällt mir viel besser als in der Schule.
Da bin ich draussen in der Natur und muss nicht immer die vier gleich öden Schulzimmerwände anschauen. Ich habe gelernt, an etwas dranzubleiben und habe schon vieles, was ich verpasst hatte, nachgeholt.» Nicht ganz auf seiner Linie sind hingegen die knapp bemessene Freizeit, das späte Nachtessen und die allabendlichen Feedback-Runden.
Genau die sind aber im Programm sehr wichtig, wie Eberhardt betont. «Da geht manchmal die Post ab.» Da gewöhnen sich die Jugendlichen eine positive Streit- und Gesprächskultur an. «Sie kritisieren und korrigieren einander selber und stellen mitunter fest, dass jemand in ihrer Gruppe gar nicht dem Bild entspricht, das sie sich von ihm gemacht haben.»
Disziplin muss sein
Unterdessen ist der Zeiger der Uhr gegen Mittag gerutscht. Zeit zum Kochen. In Anbe-tracht der kühlen Witterung wird vom geplanten kalten Essen kurzfristig auf «warm» umgestellt. Dass die Mädchen – gemäss dem üblichen Schema – auch hier im Camp diesen Part übernehmen, kann Eberhardt nicht grundsätzlich korrigieren. «Knaben können schlicht nicht Ordnung im Vorrats-raum halten.»
Vanessa, deren Eltern ein Restaurant führen, übernimmt das Szepter am offenen Herd. «Ich bin es gewohnt, gut zu essen, also koche ich auch gerne», sagt sie selbstbewusst. Auch ihr gefällt das Lager gut. Anfänglich sei sie skeptisch gewesen, jetzt schätzt sie es aber, eine andere Arbeitsweise kennen zu lernen; sie geniesse die gute Atmosphäre und den Klassengeist. Das enge Zusammensein mache ihr nichts aus, denn die 14-Jährige möchte später mit Menschen arbeiten, Sozialhelferin, beispielsweise, erzählt sie. «Dass der Leiter so streng ist, ist nicht schlecht, sonst würde es wohl nicht so gut funktionieren», ergänzt sie.
Die Teigwaren sind genau al dente, hätten noch ein bisschen mehr Salz vertragen, aber mit Käse, Ketchup und Wienerli schmecken sie den meisten und machen gute Stimmung. Dazu gibts Tee und zum Dessert den feinen Schoggikuchen von Manuela Meister, die im Camp gelegentlich aus- und mithilft.
Noch vor Arbeitsbeginn am Nachmittag gibt Eberhardt den Fahrplan für den Nachmittag bekannt. Nur wenn alles bis um 16 Uhr aufgeräumt und geputzt ist, gehts ab ins Hallenbad und als spezielles Highlight findet an diesem Abend die Gesprächsrunde im McDonald's in Schaffhausen statt.
Nach dem Essen befassen sich die Schülerinnen und Schüler intensiv mit moderner Kunst. Unter Anleitung von Marion, der Schwester von Sven Eberhardt, entstehen kreative Kunstwerke mit Farben, Dekorations- und Naturmaterialien.
Obwohl Eberhardt die jungen Leute ziemlich selbstständig wirken lässt, hat er seine Augen und Ohren überall, ist beinahe Tag und Nacht präsent, «mit Ausnahme der sieben Nachtstunden, in denen ich in meinem Zelt alleine bin».
Er gibt dort einen Tipp, weist da einen zurecht, ist dazwischen auch zu einem handfesten Spass bereit, spornt an und übt Kritik.
Die Verantwortung ist gross, «die Erfahrungen durchwegs gut», wie er betont und «die Rückmeldungen der Eltern und Lehrpersonen positiv». «Hier lernt jeder etwas anderes, selten genau das, was ich zum Voraus erwarte», lacht er.
Weiterführung gefährdet
Dennoch weiss er nicht, ob er sein Projekt weiterführen kann. Ab dem neuen Schuljahr 2003/04 fehlen ihm schlicht die finanziellen Mittel – Polp wurde während eines Jahres durch die SBW finanziert. Es waren denn auch ausschliesslich Klassen der privaten Schule, welche das Angebot in Anspruch nahmen. Dass dereinst Schulen aus der ganzen Schweiz ihre schwierigen Schüler zur «Wiedereingliederung» ins Time out schicken und der Kanton oder die Gemeinde die Kosten übernehmen,
ist vorläufig noch Wunschtraum. «Optimal wäre es, wenn von staatlicher Seite die nötige Finanzierung sichergestellt würde.» Hoffnungen setzt er beispielsweise in die neue Bildungsdirektorin des Kantons Zürich. Auch eine Zusammenarbeit mit der Jugendanwaltschaft könnte er sich vorstellen.
Einiges sei im Moment im Tun und die Chancen, dass es weitergeht, seien intakt,
gibt sich Eberhardt optimistisch.
An Engagement und Ideen mangelt es jedenfalls nicht.
Doris Fischer