POLP Praxisorientierte Lernprojekte mit TheorieTransfer
Der Strahlensatz unter freiem Himmel
Vier Wochen Erlebnispädagogik einer zweiten
Realklasse in der Ostschweiz im Juni 1996
(dokumentiert von der schweizerischen Lehrerzeitung SLZ 6/96)
Sven Eberhardt
"Erlebnispädagogik: Eine Schule, in der kein Stress stattfindet, in der keine Wandtafel das Zentrum des Geschehens ist, in der der Schüler nicht genormt gleiche Leistungen zur gleichen Zeit bringen muss. Eine Schule, in die die Jugendlichen wieder einmal mit Freude kommen. vielleicht sogar freiwillig länger "bleiben. Eine Schule, in der man sichtlich spürt, dass das Gelernte etwas mit dem Leben zu tun hat."
Mit diesen Vorstellungen und Wunschträumen startete ich Anfang Juni 1996 mein Projekt, wo ich erhoffte, dass einige meiner Ideen umgesetzt werden könnten. Mit einer Klasse, die durch ihre Vorgeschichte schon etwas belastet war, und mit der üblichen Motivation der Schüler, wie man sie halt so gegen Ende der Schulzeit zu spüren kriegt Idyllischer könnte das Naturschulzimmer kaum liegen. Am Ufer der Thur, in einem kleinen von Unkraut gesäuberten Waldstück, ist in intensiver Arbeit unser Projektplatz entstanden. Im Zentrum steht ein Bauwagen für das Material und verschiedene Tische und Stühle aus Festwirtschaftsbeständen. Die angrenzende Wiese wurde speziell für das Projekt gemäht, 50 dass grosse Flächen zum Arbeiten miteinbezogen werden konnten. Nach und nach, im Laufe der Zeit, entstanden so rund um das Schulcamp die abenteuerlichsten Aufbauten. Eine bis zum letzten Nagel selbstgebaute Wetterstation mit allen möglichen. Instrumenten (Barometer, Thermometer, Hygrometer in div. Ausführungen und vieles mehr), Versuchsanlagen von Treibbeeten, ein umfassendes Kleinbiotop, ein Turm mit einem originalgetreu nachgebildeten Modell des ersten. Wasserbarometers der Welt aus dem Jahre 1846. Ein eigenes kleines Wasserkraftwerk in der Mitte der Thur, natürlich auch von Schülern entwickelt und gebaut, liefert erstaunlich viel Strom. Am Ufer liegt ein selbstgebautes Kajak, entworfen und konstruiert von zwei Schülern, die Schreiner werden mochten. Dies sind vor allem die Objekte, die bei einem Besuch des Camps dem Gast sofort ins Auge fallen. Weniger sichtbar sind die vielen stillen Arbeiten, die während diesen vier Wochen entstanden o sind. Mikroskopieren, Pflanzen bestimmen. ein Pflanzenlehrpfad. Sonnenuhren, Erosionsversuche: rund 60 solcher kleinerenVersuche und Aufträge wurden bearbeitet. Hunderte von Protokollen lagern in den Ablagefächern der Schülerinnen und Schüler. Anfangs hatte ich doch die Befürchtung, dass diese Art von Arbeiten in Lagerstimmung ausarten könnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit welcher Motivation und Eifer die Jugendlichen diesen Schultyp ernst nehmen würden.
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"Ich konnte mir nicht vorstellen, mit welcher Motivation die Jugendlichen diesen Schultyp ernst nehmen würden."
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"Ich lege grossen Wert darauf, dass dieser Schulunterricht nicht lagerorientiert ist", teilte ich im Vorfeld meinen Schülern mit.
Ich baute klare Strukturen ein: Der Unterricht findet in einer Fünftagewoche, täglich von 8.00 bis 15.00 Uhr durchgehend statt, die Schüler bringen ihren Lunch selber mit. Mittwochnachmittag ist nicht schulfrei, dafür aber der Samstagmorgen. Wer innerhalb
seiner Projektarbeiten unter die Note 4 fällt, wird in die Schule zurückgeschickt und scheidet für eine gewisse Zeit aus dem Projekt aus. Jeder Jugendliche arbeitet an Projekten, die in Richtung der zukünftigen Berufswahl gehen. So machen spätere Gärtnerinnen und Landschaftsgärtner vor allem im Bereich Pflanzenwachstum ihre Erfahrungen, drei zukünftige Landmaschinenmechaniker bauen ein Wasserkraftwerk, eine Schülerin, die Arztgehilfin werden möchte, arbeitet viel am Mikroskop. Alle Erfahrungen aus den einzelnen Projekten werden in verschiedenen Typen von Protokollen festgehalten, wo vor allem auch Probleme, die auftauchen, enthalten sind und die diversen Lösungsansätze aufgearbeitet werden. Einzelne Teilaufgaben im Bereich der Mathematik gehören zum Pflicht-programm für alle. Höhenbestimmung mittels angewandtem Strahlensatz, Flussgeschwindigkeitsberechnungen. Distanzmessungen usw. sind ein kleiner Teil aus der praktischen Anwendung des Rechnens.
Das ganze Projekt hat auch die Infrastruktur einer Lehrfirma, und die Spielregeln richten sich auch danach. Am Ende Jeder Woche finden Qualifikationsgespräche statt, und der Jugendliche sieht sich in seiner Arbeit und in seinem Projekt ernst genommen.
Meine Idee, dass der Schüler den im Lehrplan vorgesehenen Stoff im praktischen Anwendungsbereich des täglichen Lebens kennenlernt und erfährt, dass das vom Menschen theoretisch aufgearbeitete Wissen auch wirklich irgendwo in der Natur vorhanden
ist oder abgeleistet werden kann, wurde von den Jugendlichen mit Begeisterung und motiviertem Einsatz quittiert. Trotz aller Praxis-orientiertheit, war es mir innerhalb der Zielsetzung des Projekts ganz wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler die erfahrbaren Lerninhalte immer theoretisch aufarbeiteten und darzustellen versuchten. Was mir besonders auffiel, war, dass Schüler, die sonst sehr Mühe haben im abstrakten Denkbereich, sich dadurch gerade im mathematischen löschen Schulbereich besser orientierenkonnten und gestellte Aufgabenfelder selbständig zu lösen vermochten. Dass der Strahlensatz in der Schulstube eine Quelle der Frustration ist, weiss jede Lehrkraft aus. eigener Erfahrung. Dass ein Schuler mit Notendurchschnitt 3,5. in Rechnen freiwillig Höhen-berechnungen macht, ist ein Teil der positiven Erfahrungen, die mit diesem Projekt Lehrer und Schüler machen konnten. Vor allem der individuelle Arbeitsrhythmus wurde von den Jugendlichen immer wieder positiv herausgehoben. Dies ist wahrscheinlich auch einer der haupt-sächlichsten Gründe dafür, dass das ganze Projekt für mich als Lehrer wie für die Schüler stresslos empfunden wurde. Ich stellte fest, dass bei den meisten Jugendlichen ein sichtbar erhöhtes Verantwortungsgefühl sich selbst und dem Projekt gegenüber vorhanden war. In den während des Projekts an die Eltern abgegebenen Auswertungsbogen wird als häufigstes die Ausgeglichenheit" und Motivationsbereitschaft der Jugendlichen auch gerade zu Hause während der Projektphase erwähnt.
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"Ein Schüler mit Note 3,5 im Rechnen machte freiwillig Höhenberechnungen; dies ist Teil der positiven Erfahrungen."
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Meine Funktion als individuell helfender Coach nahm ich als sehr positiv wahr. So hatte ich auch vermehrt die Möglichkeit, meine Schüler zu beobachten, und genügend Freiräume, situationsbedingte Anpassungen und Projektänderungen zu machen. Ich lernte einige neue Facetten bei Schülern kennen, und so manchen Jugendlichen, der im Schulalltag schon einigen Goodwill durch irgendwelche negativen Vorkommnisse eingebüsst hatte, kann ich heute wieder mit anderen Augen sehen.
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"Meine Funktion als individuell helfender Coach nahm ich als sehr positiv wahr."
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Dass während der meisten Zeit die Sonne schien und nur wenige Regentage das Unternehmen trübten, kam natürlich unserem Projekt sehr gelegen. Die Jugendlichen führten ihre Eltern am Wochenende ins Naturschulzimmer und zeigten ihnen die von ihnen ausgeführten Arbeiten. Mehr als einmal kam ich hinzu, wie Eltern und ihre Kinder am Wochenende ausserhalb der Projektarbeit an diesem Ort verweilten.
Im Ruckblick auf dieses Unternehmen mit allen gemachten Erfahrungen bin ich überzeugt, dass gerade durch solches praxisorientiertes Lernen das Greifbar machen von theoretischen Lerninhalten dem Schüler erst wirklich vermittelt werden kann. Der Name Real-Schule sagt es ja. schon. Wenn der Jugendliche spürt, dass seine Lebensrealität in der Schule wahrgenommen wird, mobilisiert er seine Kräfte, Interessen und Neigungen auch im schulischen Lernbereich, wo er sie halt sonst vielleicht gerade noch im Fussball zur Verfügung stellt. Trotz der relativ hohen Vorarbeit und meiner Skepsis zu Beginn des Projekts haben mir die Resultate gezeigt, dass diese Schulform ein Ansatzpunkt für lebensnahes Lernen ist, und die Reaktion von Schülerinnen, Schülern
und Eltern sprechen eine deutliche Sprache.
Ob ich im weiteren Schulalltag meine Jugendlichen auch wieder einmal darauf aufmerksam machen muss, dass der Unter-licht beendet ist, und als Antwort erhalte: "Keine Zeit!"
Lerninhalte, werden greifbar gemacht
Der Unterricht im Freien, soll. möglichst -anschaulich sein: Das Rechnen orientiert sich demzufolge an der Landwirtschaft: Prozent-, Rendite-, Mengen, Bauberechnungen, Durchflussmengen, usw. in der Geometrie werden vor Ort. Höhen- und Lanavermessungen vorgenommen, dazu kommen Flächenberechnungen, Körperkonstruktionen (zum Beispiel für die Anfertigung von einfachen Messgeräten oder Einrichtungsgegenständen) und Bauberechnungen.
Die Deutschkenntnisse gelangen in der Auswertung der Versuche, Messungen und Beobachtungen zur Anwendung: Rapporte schreiben, Projekte schriftlich dokumentieren. Zusammenfassungen schreiben, Präsentationen und Erläuterungen, (z.B. für die Messinstrumente) abfassen.
Besonders dankbar ist die Naturkunde, die sich mit dem Bau zahlreicher Messinstrumente und Versuchsanlagen gut veranschaulichen, in nächster Nähe
über eine längere Zeit beobachten und
mit allen Sinnen erfahren lässt. Aspekte der Ökologie fliessen ganz selbstverständlich mit ein. Ebenso bietet das Schul-Camp fast unbegrenzte Möglichkeiten für Aufgäben im Bereich von Werken und Gestalten.